Sonntag, 23. August 2009

Ein Roman, bei dem es einem die Sprache verschlägt


Sebastian Barry
Ein verborgenes Leben
Steidl-Verlag, 392 Seiten, cca EUR 20,60


Ganz, ganz selten liest man einen Roman, bei dem es einem die Sprache verschlägt. Einen Roman, der einen in seinen Bann zieht, in dem Sprache und Inhalt eine vollkommene Synthese eingehen. Einen Roman, bei dem einem das Beiwort "groß" zu trivial, "schön" oder "ergreifend" zu abgeschmackt erscheint.
Sebastian Barry hat mit "Ein verborgenes Leben" einen solchen Roman geschrieben. Zwei Handlungsebenen durchdringen einander, sind miteinander auf erstaunliche Weise verwoben.
Da sind auf der einen Seite die geheim in einer "Irrenanstalt" in Roscommon zu Papier gebrachten Erinnerungen der hundertjährigen Roseanne McNulty.
Der einschneidende Bruch in ihrem Leben passiert 1922, während des irischen Bürgerkriegs. Soldaten des Freistaats (also der Regierung, welche die Abtrennung Nordirlands und die Oberhoheit des britischen Empire anerkennt und von ihren einstigen republikanischen Kampfgefährten als Verräter bekämpft wird) erschießen in den Hügeln bei Sligo einen jungen IRA-Rebellen. Die Republikaner bringen ihren gefallenen Kameraden zum Friedhof von Sligo, damit er heimlich begraben werden kann. Der Friedhofswärter (ein Presbyterianer) schickt seine halbwüchsige Tochter Roseanne nach dem katholischen Priester, Father Gaunt. Der weigert sich zunächst, die Leiche einzusegnen, denn die katholischen Bischöfe haben sich auf die Seite der Regierung geschlagen und bedrohen die Rebellen mit der Exkommunizierung. Da platzen Freistaatler in das Haus des Friedhoswärters und nehmen nach einer Schießerei die IRA-Männer fest. An Roseanne und ihrem Vater klebt fortan der Vorwurf des Verrats - wie sonst hätten die Soldaten die jungen Rebellen finden sollen? Und, schlimmer noch: Die jungen Patrioten werden hingerichtet - bis auf einen, der rechtzeitig fliehen kann.
Father Gaunt spielt ab diesem Zwischenfall eine zwielichtige und bedrohliche Rolle im Leben Roseannes und ihrer Familie. Ihr Vater verliert seine Arbeit, wird zum Rattenfänger von Sligo degradiert, die Mutter verfällt langsam dem Wahnsinn.
Nach dem Selbstmord des geliebten Vaters kümmert sich die 16jährige Roseanne um ihre Mutter, die das Haus nicht mehr verlässt. Mit ihrem kargen Lohn als Bedienung im Cairo Café erhält sie sich und die Mutter am Leben. Im Café lernt sie auch ihren künftigen Mann kennen, Tom McNulty, Sproß einer angesehenen katholischen Familie. Eisige Ablehnung findet Roseanne bei ihrer künftigen Schwiegermutter: Eine Protestantin, und sei sie auch Presbyterianerin, ist eine Schande im Haus der McNultys.
Tom ehelicht sie trotz des Widerstandes der Mutter, immer wichtiger werden ihm aber seine politischen Ambitionen - vom glühenden Freistaatler mausert er sich zum Faschisten (in Irland gab es unter Eoin O'Duffy mit seinen "Blauhemden" eine echte autochtone faschistische Bewegung), der seinem "Führer" sogar nach Spanien folgt, um an der Seite der Franco-Putschisten zu kämpfen.
Aufgrund einer besonders fiesen Intrige, in die natürlich wieder Father Gault verwickelt ist, zerbricht Roseannes Leben endgültig. Selbst als sie, von den McNultys verstoßen, "außerehlich" schwanger wird und diese verzweifelt um Hilfe bei der Geburt anfleht, rühren diese keinen Finger, um der verzweifelten junge Frau zu helfen.
Als wahnsinnige Kindsmörderin wird sie in die Irrenanstalt gesteckt.
Der zweite Strang des Romans sind die Aufzeichnungen Dr. Grenes, des Leiters der Anstalt in Roscommon, den kurz vor Erreichung des Pensionsalters ein unerwarteter Bescheid des Gesundheitsministeriums trifft: Jahrzehntelang hat er sich darum bemüht, die alte, verrottete, durchfeuchtete Irrenanstalt aus dem frühen 19. Jahrhundert in Stand setzen zu lassen - und plötzlich erhält er die Mitteilung aus Dublin, dass die Anstalt abgerissen und durch eine moderne, allen medizinischen und hygienischen Standards entsprechende, Klinik ersetzt werden soll.
Allerdings müssen vorher Dutzende Insassen "in die Freiheit" entlassen werden - denn es ist ein offenes Geheimnis, dass viele der alten Patientinnen und Patienten von ihren Angehörigen oder Lokalpolitikern in die Anstalt gesteckt wurden, um sie loszuwerden, und nicht, weil sie wirklich psychisch krank waren.
Roseanne McNultys "Fall" entwickelt sich langsam zu einer Obsession für den Arzt, der in genau dieser kritischen Phase einen weiteren schweren Schicksalsschlag - den Tod seiner Frau - hinnehmen muss.

Ich will jetzt nicht mehr von der Geschichte vorwegnehmen - sie ist es mehr als wert, gelesen zu werden. Meiner Meinung nach hat Sebastian Barry für diesen Roman völlig zu recht den Irish Book Award 2009 für den besten irischen Roman erhalten.
Besonders hervorgehoben sei die Übersetzung von Hans-Cristian Oeser, die mit großer Sensibilität die sprachliche Schönheit des Originals ins Deutsche transponiert hat.

Barrys Roman zeigt auf beeindruckende Weise, wie die Vergangenheit in die Gegenwart hinein wirkt. Zugleich ein großartiges literarisches Zeugnis für die verhängnisvolle Auswirkung des klerikalen Einflusses auf die irische Gesellschaft im 20. Jahrhundert.
(Kurt Lhotzky)

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