Donnerstag, 27. August 2009

Trinken und sterben in Galway


Ken Bruen
Jack Taylor fliegt raus
Atrium Verlag, 304 Seiten, EUR 16,50

Ja, ich sags gleich freiwillig: Harry Rowohlt hat diesen Roman übersetzt. Mehr sage ich aber jetzt nicht mehr zu diesem Thema...

Jack Taylor fliegt raus - und zwar aus der Garda Siochána, der irischen Polizei. Nicht wegen übermäßigen Alkoholkonsums - der ist in seinem Job eher ein Plus. Aber er kann manchmal den vorlauten Mund nicht halten, und die Hand rutscht ihm auch manchmal bei den falschen Leuten aus. In einem Land, in dem Polizei, Politik und Geschäft so verklebt sind wie in Irland (Das einfache irische Volk: Äh - nur in Irland? Kennen wir das nicht von irgendwoher?) gar nicht ungefährlich.

Taylor tut also, was er gut kann, auf eigene Rechung: Saufen und ermiteln. Sein Büro ist in Grogans's Pub in Galway, und dort findet ihn eine Klientin, die sich mit dem angeblichen Selbstmord ihrer Tochter nicht abfinden will.

Jack Taylor zur Seite stehen: Ein weiser Barkeeper namens Sean, ein finsterer schwarzer Ritter namens Sutton und eine Punkerin mit göttlicher Stimme. Und viele Flaschen Whiskey und viele Pints. Aber Jack arbeitet wirklich, und das bringt ihn nicht nur in Lebensgefahr, sondern auch in eine Ausnücherungsklinik, und der Kampf gegen die bösen Buben wird immer mehr zum Kampf gegen die eigenen Dämonen und gegen die Flasche.

Ken Bruen, dem deutschsprachigen Publikum als Koautor (mit Jason Starr) der Rotbuch "Hardcasecrimes" bekannt, schreibt schwärzeste hard-boiled-fiction. Zugleich ist dieses Buch auf eine schräge Art eine berührende Liebeserklärung an die Literatur und ans Lesen.

Und, weil sichs ohnehin nicht vermeiden lässt: Natürlich für Harry-Rowohlt-Fans ein Pflichtbuch.
[Kurt Lhotzky]

Schlimme Freundschaft


Tana French
Totengleich
784 Seiten, EUR 17,50

Cassie Maddox, die Ermittlerin aus "Grabesgrün" kehrt zurück - und wie noch dazu! Wer ist die Tote, die vor ihr sitzt, in einem verfallenen Cottage in den Wicklow Mountains, mit ihren Gesichtszügen und einem Ausweis auf eine Deckidentität, die Cassie einst selbst erfunden hat? Kein Wunder, dass ihre Kollegen ebenso irritiert sind wie die junge Polizistin, die einen Schritt zurück in die dämmrige Welt der Undercoverarbeit macht, um die Tote und damit auch sich selbst kennen zu lernen. Als Lexie Madison kehrt sie mit Namen und Geschichte der Toten zurück, die - so die offizielle Version der Dubliner Polizei - knapp mit dem Leben davongekommen ist.

"Totengleich" ist um einiges "irischer" als "Grabesgrün" - die Vergangenheit der armen grünen Insel greift stärker in die Gegenwart ein als im Erstling Tana Frenchs. Und wieder besticht sie durch eine poetische Sprache, präzise Beobachtungen und erstaunliche Überlegungen zum Leben ihrer Romanfiguren.

"Totengleich" ist mehr als ein Krimi. Mir ist es beim Lesen so ergangen, dass die Fragen nach dem "Wer", "warum" und "wo" bald hinter die Frage zurückgetreten sind: Welche Kraft hält diese kleine Gemeinschaft zusammen, in der Lexie Madison gelebt und gelacht hat - mit den Studenten Daniel, Rafe, Justin und Abby, der zweiten Frau in der Gruppe, die gemeinsam ein verfallenes Herrenhaus außerhalb Dublins bewohnbar machen wollen?

Cassie begibt sich auf eine gefährliche Gratwanderung - zwar wissen sie und ihr extrem manipulativer Chef Frank Mackey viel über Lexie, aber bei weitem nicht alles. Sollte einer der Mitbewohner der Mörder sein, könnte jeder Fehler tödlich sein.

Hätte Tana French "Totengleich" auf diesen "kriminalistischen" Aspekt reduziert, hätte vermutlich ein Band mit 300, 350 Seiten gereicht. Aber die Autorin will mehr, und es gelingt ihr meiner Meinung nach hervorragend: Sie will die Tiefen und Untiefen der Existenz ihrer Heldinnen und Helden ausloten, und so entsteht ein faszinierendes und todtrauriges Panorama zum Thema Freundschaft(en).

Ulrike Wasel und Klaus Timmermann haben für eine sensible und geglückte Übersetzung gesorgt.

(Kurt Lhotzky)

Sonntag, 23. August 2009

Ein Roman, bei dem es einem die Sprache verschlägt


Sebastian Barry
Ein verborgenes Leben
Steidl-Verlag, 392 Seiten, cca EUR 20,60


Ganz, ganz selten liest man einen Roman, bei dem es einem die Sprache verschlägt. Einen Roman, der einen in seinen Bann zieht, in dem Sprache und Inhalt eine vollkommene Synthese eingehen. Einen Roman, bei dem einem das Beiwort "groß" zu trivial, "schön" oder "ergreifend" zu abgeschmackt erscheint.
Sebastian Barry hat mit "Ein verborgenes Leben" einen solchen Roman geschrieben. Zwei Handlungsebenen durchdringen einander, sind miteinander auf erstaunliche Weise verwoben.
Da sind auf der einen Seite die geheim in einer "Irrenanstalt" in Roscommon zu Papier gebrachten Erinnerungen der hundertjährigen Roseanne McNulty.
Der einschneidende Bruch in ihrem Leben passiert 1922, während des irischen Bürgerkriegs. Soldaten des Freistaats (also der Regierung, welche die Abtrennung Nordirlands und die Oberhoheit des britischen Empire anerkennt und von ihren einstigen republikanischen Kampfgefährten als Verräter bekämpft wird) erschießen in den Hügeln bei Sligo einen jungen IRA-Rebellen. Die Republikaner bringen ihren gefallenen Kameraden zum Friedhof von Sligo, damit er heimlich begraben werden kann. Der Friedhofswärter (ein Presbyterianer) schickt seine halbwüchsige Tochter Roseanne nach dem katholischen Priester, Father Gaunt. Der weigert sich zunächst, die Leiche einzusegnen, denn die katholischen Bischöfe haben sich auf die Seite der Regierung geschlagen und bedrohen die Rebellen mit der Exkommunizierung. Da platzen Freistaatler in das Haus des Friedhoswärters und nehmen nach einer Schießerei die IRA-Männer fest. An Roseanne und ihrem Vater klebt fortan der Vorwurf des Verrats - wie sonst hätten die Soldaten die jungen Rebellen finden sollen? Und, schlimmer noch: Die jungen Patrioten werden hingerichtet - bis auf einen, der rechtzeitig fliehen kann.
Father Gaunt spielt ab diesem Zwischenfall eine zwielichtige und bedrohliche Rolle im Leben Roseannes und ihrer Familie. Ihr Vater verliert seine Arbeit, wird zum Rattenfänger von Sligo degradiert, die Mutter verfällt langsam dem Wahnsinn.
Nach dem Selbstmord des geliebten Vaters kümmert sich die 16jährige Roseanne um ihre Mutter, die das Haus nicht mehr verlässt. Mit ihrem kargen Lohn als Bedienung im Cairo Café erhält sie sich und die Mutter am Leben. Im Café lernt sie auch ihren künftigen Mann kennen, Tom McNulty, Sproß einer angesehenen katholischen Familie. Eisige Ablehnung findet Roseanne bei ihrer künftigen Schwiegermutter: Eine Protestantin, und sei sie auch Presbyterianerin, ist eine Schande im Haus der McNultys.
Tom ehelicht sie trotz des Widerstandes der Mutter, immer wichtiger werden ihm aber seine politischen Ambitionen - vom glühenden Freistaatler mausert er sich zum Faschisten (in Irland gab es unter Eoin O'Duffy mit seinen "Blauhemden" eine echte autochtone faschistische Bewegung), der seinem "Führer" sogar nach Spanien folgt, um an der Seite der Franco-Putschisten zu kämpfen.
Aufgrund einer besonders fiesen Intrige, in die natürlich wieder Father Gault verwickelt ist, zerbricht Roseannes Leben endgültig. Selbst als sie, von den McNultys verstoßen, "außerehlich" schwanger wird und diese verzweifelt um Hilfe bei der Geburt anfleht, rühren diese keinen Finger, um der verzweifelten junge Frau zu helfen.
Als wahnsinnige Kindsmörderin wird sie in die Irrenanstalt gesteckt.
Der zweite Strang des Romans sind die Aufzeichnungen Dr. Grenes, des Leiters der Anstalt in Roscommon, den kurz vor Erreichung des Pensionsalters ein unerwarteter Bescheid des Gesundheitsministeriums trifft: Jahrzehntelang hat er sich darum bemüht, die alte, verrottete, durchfeuchtete Irrenanstalt aus dem frühen 19. Jahrhundert in Stand setzen zu lassen - und plötzlich erhält er die Mitteilung aus Dublin, dass die Anstalt abgerissen und durch eine moderne, allen medizinischen und hygienischen Standards entsprechende, Klinik ersetzt werden soll.
Allerdings müssen vorher Dutzende Insassen "in die Freiheit" entlassen werden - denn es ist ein offenes Geheimnis, dass viele der alten Patientinnen und Patienten von ihren Angehörigen oder Lokalpolitikern in die Anstalt gesteckt wurden, um sie loszuwerden, und nicht, weil sie wirklich psychisch krank waren.
Roseanne McNultys "Fall" entwickelt sich langsam zu einer Obsession für den Arzt, der in genau dieser kritischen Phase einen weiteren schweren Schicksalsschlag - den Tod seiner Frau - hinnehmen muss.

Ich will jetzt nicht mehr von der Geschichte vorwegnehmen - sie ist es mehr als wert, gelesen zu werden. Meiner Meinung nach hat Sebastian Barry für diesen Roman völlig zu recht den Irish Book Award 2009 für den besten irischen Roman erhalten.
Besonders hervorgehoben sei die Übersetzung von Hans-Cristian Oeser, die mit großer Sensibilität die sprachliche Schönheit des Originals ins Deutsche transponiert hat.

Barrys Roman zeigt auf beeindruckende Weise, wie die Vergangenheit in die Gegenwart hinein wirkt. Zugleich ein großartiges literarisches Zeugnis für die verhängnisvolle Auswirkung des klerikalen Einflusses auf die irische Gesellschaft im 20. Jahrhundert.
(Kurt Lhotzky)

Samstag, 15. August 2009

Gute Konfektion auf dem Verschwörungssektor

Jeff Abbott
Run - es geht um dein Leben
Heyne, 477 Seiten, EUR 9,20

Jeff Abbott ist ein Thriller-Routinier. Das merkt man - im Positiven wie im Negativen - an "Run".
Ich sehe in der Thriller-Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts mehrere Stränge. Der eine geht von Eric Ambler über John Le Carré und Ross Thomas zu Robert Littell (um nur einige Glanzlichter am Thriller-Firmanent zu nennen). Das sind die Thriller, die nicht nur eine ungute Gegenwart abbilden, sondern diese Gegenwart auch reflektieren. Nicht im Sinne des Spiegels allein, in dem wir uns und unsere Welt sehen, sondern im Sinne der intellektuellen Reflexion über die herrschenden Zustände. Die Autoren dieser Schule sind lakonisch, zynisch, und oft so brillant, dass sie die engen Genregrenzen sprengen. Ihre Protagonistinnen und Protagonisten sind hochkomplexe, oft gebrochene, Charaktere, die kaum mehr Illusionen in ihr zumeist geheimes Gewerbe haben. Das "Gute" ist nicht nur eine Frage des Blickwinkels, sondern von Zeit und Ort.

Der zweite Hauptstrang ist jener der systemimmanenten Pageturner - wohl am eindeutigsten an Robert Ludlum und seinen rasanten Ziegeln festzumachen. Das Handlungsmuster ist zumeist ähnlich gestrickt: Ein unschuldiger Durchschnittsbürger, der jedoch über irgendeine (und nur eine!) besondere Fähigkeit verfügt oder eine Vergangenheit in der US-Army hinter sich und daher eine rudimentäre Nahkampfausbildung hat, wird in den Sog einer welt- oder zumindestens die USA bedrohenden Verschwörung gerissen, in die oft genug sogar Vertreter der "demokratischen Supermacht Nummer 1" verwickelt sind, schafft es aber nach zahlreichen Schuss- und Stichwunden, gebrochenen Knochen und Würgemalen, die Welt/die USA (zutreffendes bitte ankreuzen) zu retten. Die einzelnen Charaktere brauchen nicht besonders modelliert zu werden - die Leserin, der Leser hat ohnehin keine Zeit, in der ständigen Abfolge von Hetzjagden, Hinterhalten, Mordanschlägen und Fallen über psychologische Fragen nachzudenken ... Die Systemimmanenz dieser Schule liegt darin, dass die Frage nach den Ursachen politischen Handelns nie ernsthaft aufgeworfen wird - letztlich sollen die Helden einen status quo immer bewahren und nicht in Frage stellen.

Jeff Abbott gehört meiner Meinung nach in die Ludlum-Schule, und dementsprechend haben wir es bei "Run" mit guter, ja sogar sehr guter Konfektionsware zu tun - wenn wir bereit sind, eine gehörige Portion Ideologie mitzuschlucken. Diese Ideologie ist aber durchaus interessant und untersuchenswert.

Ohne zuviel vom Plot zu verraten, hier eine kurze Handlungsskizze: Ein jung-dynamischer Unternehmensberater, dessen soeben angetraute Ehefrau während der Flitterwochen von einem Heckenschützen ermordet wird, gerät zwei Jahre später in ein sinistres Komplott: Ein professioneller Killer, der einen wichtiger Auftrag vermasselt und in Folge selbst seine üble Seele aushaucht, ist nämlich im Besitz einer Visitkarte des besagten Ben Forsberg. Das ruft das Heimatschutzministerium, die Sicherheitssupertruppe der amerikanischen Regierung auf den Plan, und die gehen mit unserem Protagonisten gar nicht fein um. Ein besonders widerlicher Agent, der Gestapo-Allüren an den Tag legt, wird jedoch rechtzeitig von einem mysteriösen Undercover-Killer umgenietet, der überhaupt eine beachtliche Blutspur hinter sich herzieht. Alles weist in Richtung sogenannter "Contractors", also der Söldnerunternehmen (vornehm: Sicherheitsunternehmen), die unter anderem im Irak und in Afghanistan (Stichwort: Blackwater) ihr Unwesen treiben.

Ja - wir haben es hier mit einem Post-Kaltem-Kriegs- und "Krieg gegen den Terror"-Thriller zu tun. Damit sind dem Autor einige klassische Möglichkeiten des Thrillergenres abgeschnitten: Die "right-or-wrong-my-country"-Philosophie eines Ian Fleming greift heute nicht mehr; dass auch "die Guten" genug Dreck am Stecken haben (Stichwort hier: Guantanamo) lässt sich einfach nicht ignorieren. Und (vielleicht tue ich jetzt Mr. Abbott Unrecht) auch der Thrillerautor will ja von was leben und muss sich daher heute sehr genau überlegen, wie weit er mit seiner Kritik an der eigenen Regierung gehen kann und will, ohne nicht biometrisch oder sonstwie behandelt zu werden ;-).

Also kratzt Abbott die Kurve und schreibt sowas wie einen "konstitutionellen Pageturner": Hielten sich die Geheimdienste an die Gesetze, wäre die Welt nur halb so schlimm (oder vielleicht sogar ganz gut).

Eine erstaunliche Figur auf der Seite der ganz Bösen ist übrigens ein Profikiller namens Jack, das kann ich jetzt ruhig vorwegnehmen. Selten tölpelte ein Vertreter der mordenden Zunft so erfolglos durch eine Story. Und dieser Jackie ist wirklich keine Parodie - der ist ganz eindeutig ernst gemeint!

Hier schließt sich für mich der Bogen zu Robert Ludlum, der teilweise erstaunlich gute und realistische Plots oft dadurch auf der Ebene der Thrillerkonfektion stecken bleiben ließ, weil am Ende ein aufgeklärter US-Präsident oder ein Oberster Richter alles zum Guten wendete. Aber solche Sitcom-Happy-Ends sind ja auch schon größeren amerikanischen Autoren passiert - und die hatten meist auch einen höheren Anspruch.

Alles in Allem: Ein Buch für lange Bahnfahrten, heiße oder verregnete Sommertage, den trüber Herbst oder den kalten Winter. Wer sich dann und wann einen gut gearbeiteten Verschwörungsthriller hineinziehen will, ist mit "Run" gut bedient.

(Kurt Lhotzky)

Mittwoch, 12. August 2009

Eine Geschichte, die ans Herz geht


Franz Zeller
Herzlos
Pendragon Verlag, 250 Seiten, EUR 10,20

Übel, wenn ein junger Arzt, der hoch hinaus will, ausgerechnet im Keller einer Salzburger Klinik unter zahlreichen Messerstichen stirbt. Noch übler, wenn ein ranghoher Polizeioffizier auf rasche Aufklärung drängt, und ein Obdachloser unter Verdacht gerät. Ganz übel, wenn auch der mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden wird.

Was wie ein turbulenter Regionalkrimi im Ärztemilieu klingt, ist in Wahrheit eine höchst vertrackte Geschichte, in der schließlich eine Leiche eine zentrale Rolle spielt, die nur einen Schönheitsfehler hat: Sie hat kein Herz (mehr)...

Allzuviel darf ich jetzt aber nicht vorwegnehmen, schließlich und endlich sollen Sie diesen Krimi ja noch mit Genuss lesen können. Der Autor, Franz Zeller, Literatur - und Wissenschaftsjournalist beim ORF, hat eine ganze Menge wissenswerter Informationen über Praktiken im modernen Medizin- und Pharmasektor in seinen Krimierstling verpackt. Sein ermittelnder Protagonist Franco Moll weist alle Merkmale auf, die einen sympathischen, wenngleich nicht unproblematischen, Serienhelden auszeichnen.
(Kurt Lhotzky)

Samstag, 8. August 2009

Krimi ohne Leiche? Yes we can!


Matthew Dicks
Der gute Dieb
Blanvalet, EUR 9,20

Zu den ewigen Weisheiten gehört das Diktum, ein Krimi käme nicht ohne Leiche aus. Dass das sehr wohl möglich ist, beweist Matthew Dicks in seinem Erstling "Der gute Dieb" mit großer Eleganz.
Die Geschichte des, gelinde gesagt, zwangsneurotischen Martin, der keine Opfer, sondern Klienten hat und seine täglichen Bedürfnisse nicht durch Einkaufen sondern durch Besuche bei seinen Kunden deckt, ist nicht nur witzig, sie regt auch zum Nachdenken an. Etwa: Ist es wirklich eine absurde Konstruktion, dass ein Dieb unbemerkt, über Jahre hindurch, Dinge an sich bringt, die den Besitzern eigentlich gar nicht fehlen? Die höchstens ein Achselzucken auslösen, wenn sie unauffindbar sind? Oder ist das nicht ein satirischer Seitenhieb auf eine Überflussgesellschaft mit ihren Scheinbedürfnissen?
Köstlich: Die Beziehung zum Graupapagei eines Klientenpaares (als Einrecher hat man ja sonst kaum eine Chance, am Arbeitsplatz Freundschaften zu schließen). Ein amüsantes Buch mit großen Qualitäten.
Kurt Lhotzky

Freitag, 7. August 2009

Abgründiges Ausseerland


Anni Bürkl
Schwarztee - Ein Salzkammergut-Krimi
Gmeiner-Verlag, 323 Seiten, EUR 12,40

Wenn braune Esoteriker in literarischen Teestuben ihr Unwesen treiben, werden sogar biedere Ausseer zu echten Alt-Aussehern. Bei Anni Bürkl gesellt sich zum Teesatz auch der braune Bodensatz, denn bei einer Lesung in Berenike Roithers Teesalon wird ein Gast, der Journalist Robert Rabenstein, gemeuchelt. Dass Gift im Spiel ist, macht die Sache für die Jungunternehmerin publicitymäßig nicht besser. Und die Umtriebe national angehauchter Politiker tragen auch nicht zum Wohlbehagen bei.

Anni Bürkl hat einen veritablen "Regionalthriller" geschrieben, der übrigens auch in Wien spielt, und eine Menge interessanter Details zur Teekultur in die Krimihandlung gemischt.
(Kurt Lhotzky)

Ein "Krisenlesebuch"


Das Ende des Kasino-Kapitalismus?
Globalisierung und Krise
edition Blätter, 285 Seiten, EUR 15,50

"Mit der Krise kommen die Bücher" - hätte vermutlich J. M. Simmel zu einem verlegerischen Trend gesagt, der momentan voll durchschlägt.

Eines der interessantesten Bücher zum Thema Krise ist der im Verlag der "Blätter für deutsche und internationale Politik" erschienene Sammelband "Das Ende des Kasino-Kapitalismus". In den Blöcken "Die Bubble-Ökonomie und ihre Folgen", "Wer profitiert, wer haftet?", "Die neue Weltunordnung", "Weltkrieg oder Weltgesellschaft" und "Alternative Strategien" beschäftigen sich AutorInnen wie Elmar Altvater, David Harvey, Joachim Becker oder Saskia Sassen mit einem breiten Sepktrum von Themen, die direkt oder indirekt mit der aktuellen Krise zusammenhängen.

Besonders hinweise möchte ich auf die These von David Harvey, der in den unterschiedlichen Formen staatlicher Intervention zur Rettung des FIRE-Sektors (finance, insurance, real estate) einen Finanzstaatsstreich sieht, der letztlich den von manchen Kommentatoren für tot erklärten Neoliberalismus retten könnte - wobei den "sozialen Bewegungen", dem subjektiven Faktor also, eine entscheidende Rolle bei desen Leben oder Sterben zukäme.

(Kurt Lhotzky)

"Wie Himberen schmeckt ihm das Töten"...


Robert Littell
Das Stalin-Epigramm
Arche, Preis: ca. 23,-- EUR


Robert Littell ist meiner Meinung nach einer der wichtigsten lebenden Thriller-Autoren, ein legitimer Nachfolger Eric Amblers, John LeCarrés und Ross Thomas. Seine Kenntnis der "russischen Frage" mäandriert durch sein Gesamtwerk. Mit "Das Stalin-Epigramm" hat Littell einen Roman geschrieben, in dem es um monströse Verrbechen, um Schuld ohne Sühne, um Verrat und Liebe geht, und der dennoch kein Thriller ist. Vielmehr hat Littell ein Atom aus dem Kosmos des stalinistischen Terrors herausgegriffen und formal und inhaltlich brillant beleuchtet: Das Schicksal des Dichters Ossip Mandelstam, der mit seinem "Stalin-Epigramm" der Geschichte ins Rad greifen will und grausam für seinen (Über)Mut büssen muss.

Reale und erfundene Personen vermengen sich ebenso wie Realität und Halluzination des geschundenen Dichters Mandelstam. Ist das (fiktionale) Treffen mit Stalin (erfundene) Wirklichkeit oder die fiebrige Phantasie eines Gefolterten? Frauen und Freunde aus dem Leben des Poeten - die Achmatowa, Nadjeschda Mandelstam, Boris Pasternak - kommen ebenso zu Wort wie ein naiver analphabetischer Gewichtheber und Zirkusartist oder der Leibwächter Stalins.

Beeindruckend die Beschreibung des berüchtigten Empfangs in der Villa Maxim Gorkis 1934, bei dem Stalin die Richtlinien für den "sozialistischen Realismus" verkündet - und die Vernichtung eines vorlauten jungen Schriftstellers anordnet, der Fragen zur Hungersnot in der Ukraine stellt. Erschütternd die Konfrontationen zwischen Mandelstam und dem zuständigen Vernehmungsleiter des NKWD, Christophorowitsch - einem intellektuellen Vollstrecker des Willens der Partei, dem diese Arbeit aber auch wirklich Freude bereitet.

Es ist offenkundig, dass Robert Littell mit diesem Roman das Buch geschrieben hat, welches er immer schreiben wollte - ein "Herzblutbuch", wie Klaus Wagenbach sagen würde. Ich kann diesem beeindruckenden Werk nur viele Leserinnen und Leser wünschen.

P.S.: Und hier das "Stalin-Epigramm":

Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr,
Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört,
Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, –
Betrifft's den Gebirgler im Kreml.
Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,
Und Zentnergewichte wiegts Wort, das er fällt,
Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,
Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.
Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,
Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,
Die pfeifen, miaun oder jammern.
Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.

Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:
In den Leib, in die Stirn, in die Augen, – ins Grab.
Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten –
Und breit schwillt die Brust des Osseten.
(Kurt Lhotzky)